Bei ausgeprägten Kieferfehlstellungen (Dysgnathien), d.h. bei extremen Lageabweichungen des Oberkiefers und / oder Unterkiefers, werden nicht nur das äußere Erscheinungsbild und das Profil beeinträchtigt, sondern es können auch funktionelle Probleme auftreten.
In diesen Fällen kann eine chirurgische Korrektur des Oberkiefers und / oder Unterkiefers (Umstellungsosteotomie) durch einen Mund- Kiefer- Gesichtschirurgen in Kombination mit einer kieferorthopädischen Behandlung notwendig sein.
Durch eine kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung kann das Profil harmonisiert und dadurch ästhetisch stark verbessert werden. Auch die Kaufunktion kann durch diese Therapie wiederhergestellt und funktionelle Probleme können beseitigt werden.
Ein „falscher Biss“ (Dysgnathie) kann genetisch bedingt sein, also vererbt, wenn einer der beiden Kiefer zu stark oder zu wenig wächst. Aber auch durch Fehlfunktionen des Kauapparates und der umgebenden Muskulatur kann es zu einer Fehlentwicklung kommen, sodass Ober- und Unterkiefer nicht mehr richtig zusammenpassen.
Zu den häufigsten Dysgnathien, die kieferorthopädisch-kieferchirurgisch korrigiert werden, zählen zum einen der Rückbiss (Rücklage des Unterkiefers / Distalbisslage), bei dem die oberen Schneidezähne weit vor den unteren Schneidezähnen stehen, sowie der Vorbiss (Unterkiefervorlage / Mesialbisslage), bei dem die oberen Schneidezähne hinter den unteren Schneidezähnen stehen können.
Liegt ein skelettal bedingter, frontal offener Biss vor, haben die oberen und unteren Schneidezähne gar keinen Kontakt. Auch ein extrem schmaler Oberkiefer und ein daraus resultierender seitlicher Kreuzbiss gehört zu den häufigeren Dysgnathien, der im Erwachsenenalter kieferchirurgisch unterstützt behandelt wird.
Zu den funktionellen Problemen, die durch einen falschen „Biss“ hervorgerufen werden, zählen: eingeschränkte Kaufunktion, Schmerzen im Bereich der Kiefergelenke, Verspannungen im Hals- Nacken und Rückenbereich, Kopfschmerzen, erschwerter Lippenschluss oder Beeinträchtigung der Sprache. Da das Kausystem im Zusammenhang mit dem muskulären und dem skelettalen Halteapparat des Körpers steht, kann sich eine Kieferfehllage auch negativ auf den übrigen Körper auswirken.
Durch eine kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgische Therapie können funktionelle Probleme und Schmerzen behoben werden. Die Kaufunktion wird durch die Korrektur der „Bisslage“ deutlich verbessert.
Bei vielen Patienten wird durch die Harmonisierung des Gesichtsprofils eine enorme ästhetische Verbesserung erzielt. Das trägt zu einer Steigerung des Selbstwertgefühls bei, was sich wiederum positiv auf den privaten und beruflichen Bereich auswirken kann.
Wenn einer der Kiefer zu stark oder zu wenig gewachsen ist, wirkt das Gesichtsprofil nicht mehr harmonisch und daher weniger attraktiv.
Ästhetisch wird als sehr störend empfunden, wenn der Unterkiefer im Verhältnis zum Oberkiefer zu prominent ist. Das kann zum einem an einem zu ausgeprägten Unterkieferwachstum liegen („Progenie“ oder auch „mandibuläre Prognathie“), zum anderen kann auch eine Unterentwickelung des Mittelgesichts, („maxilläre Retrognathie“) d.h. Oberkiefer und Nasenbereich, den Eindruck eines zu großen Unterkiefers vortäuschen.
Besonders Frauen leiden darunter, wenn der Unterkiefer in Relation zum Oberkiefer zu prominent ist, weil die markanten Gesichtszüge mit dem prominenten Kinn hart wirken im Gegensatz zu weicheren, femininen Gesichtszügen.
Liegt dagegen der Unterkiefer zu weit zurück und wirkt zu klein („Retrogenie“), kann der fließende Übergang vom Kinn zum Hals so wirken, wie wenn das Kinn fehlen würde („fliehendes“ Kinn). Zwar kann der Oberkiefer im Verhältnis zum Unterkiefer auch zu weit vorne liegen, meistens handelt es sich aber um eine Unterentwicklung des Unterkiefers. Auch unter dieser Fehlbisslage leiden viele Menschen, da sie als unattraktiv empfunden wird.
Ästhetisch besonders ansprechend wirkt in Europa ein Profil, bei dem das Kinn leicht zurückliegt und die Lippen prominent sind, wobei die Unterlippe leicht hinter der Oberlippe liegt, das Profil also leicht nach vorne „gewölbt“ („konvex“) ist.
Eine Dysgnathie-OP sollte erst nach abgeschlossenem Kieferwachstum erfolgen. Wird eine Bisslagekorrektur (Umstellungsosteotomie) bereits durchgeführt bevor das Wachstum abgeschlossen ist, kann es sein, dass der Kiefer nach der Operation weiterwächst und sich der „Biss“ wieder verschlechtert. In so einem Fall könnte später eine weitere Operation nötig sein.
Im Allgemeinen ist bei Frauen das Kiefer-Wachstum zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr abgeschlossen. Männer wachsen oft noch länger und die Wachstumsphase ist erst zwischen dem 17. und 19. Lebensjahr abgeschlossen.
Die Entscheidung für das richtige Alter einer Dysgnathie-Operation muss in Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen gefällt werden. Der früheste Zeitpunkt für eine Operation wird individuell für jeden Patienten entschieden und ist von der Art und Ausprägung der Dysgnathie, vom Wachstum und den eventuell vorhandenen funktionellen Problemen abhängig. Auch die Psyche spielt bei der Entscheidung für den richtigen Zeitpunkt einer Operation eine Rolle.
In seltenen Ausnahmefällen, wenn die Kaufunktion enorm beeinträchtigt ist und auch die Psyche sehr unter der Kieferfehlstellung leidet, kann eine Operation schon früher durchgeführt werden, allerdings kann dann eine weitere Operation nach vollständigem Abschluss des Wachstums erforderlich sein.
Bei der Erstberatung erfolgt eine Untersuchung des Patienten und es wird festgestellt, ob eine rein kieferorthopädische Behandlung ausreichen kann, die Zahn- und Kieferfehlstellung zu behandeln. In vielen Fällen kann eine moderate Ober- und / oder Unterkieferfehlstellung kompensatorisch über die Korrektur der Zahnstellung behandelt werden, sodass ein chirurgischer Eingriff nicht nötig ist.
In ausgeprägten Fällen muss eine kieferorthopädisch-kieferchirurgische Kombinationsbehandlung in Erwägung gezogen werden und der Patient wird an einen Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen überwiesen, um sich weiter beraten zu lassen. Die individuellen Wünsche und Vorstellungen des Patienten werden dabei ausführlich besprochen. Empfiehlt auch der Kieferchirurg nach Abwägung der Vor- und Nachteile und Risiken eine kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung, kann ein Behandlungsplan erstellt werden, wenn der Patient dies wünscht.
Bereits bei der Planung und während der des gesamten Therapieverlaufs einer kombiniert kieferorthopädisch – kieferchirurgischen Behandlung ist eine enge Zusammenarbeit zwischen beiden Fachbereichen erforderlich. Während die Zahnstellung kieferorthopädisch behandelt wird, wird die Kieferlage durch den operativen Eingriff korrigiert.
Es erfolgt zuerst eine kieferorthopädische Vorbehandlung mit einer Multiband- Apparatur zur korrekten Positionierung der Zähne auf dem Kiefer und Ausformung der Zahnbögen.
Die Behandlungsdauer mit der festen Spange (Multiband-Apparatur) beträgt zwischen 6 und 12 Monaten. Die Spange bleibt während der Operation im Mund, da nach der Operation noch die Feineinstellung der Verzahnung („Okklusion“) nötig ist.
Sind die Zahnbögen kieferorthopädisch ausgeformt, stellt sich der Patient erneut beim Chirurgen vor, um das weitere Vorgehen und den OP-Termin zu besprechen.
Danach folgt der chirurgische Eingriff. Einen Tag vor der OP wird der Patient meist stationär aufgenommen. Der Eingriff erfolgt in einer Klinik unter Vollnarkose und dauert je nach Umfang zwischen 1,5 und 4 Stunden.
Der Ober- und / oder Unterkiefer werden wie geplant mittels vorher angefertigter OP-Splinte neu positioniert und die Knochen werden mit Platten (Osteosysntheseplatten) und Titanschrauben fixiert. Oft ist die Operation nur eines Kiefers („monognathe“ Umstellungsosteotomie) ausreichend, je nach Art und Ausprägung des Dysgnathie kann aber auch eine Operation beider Kiefer („bimaxilläre oder bignathe Umstellungsosteotomie“) erforderlich sein.
Falls das Kinn zu groß oder zu klein ist, kann dies ebenfalls während der OP plastisch korrigiert werden.
Nach der Operation wird das Gesicht mit einer Kühlmaske gekühlt, um Schwellungen vorzubeugen. Der Patient bleibt anschließend 2-5 Tage stationär im Krankenhaus und wird danach für ca. 2 Wochen krankgeschrieben.
Bereits unmittelbar nach der Operation kann der Patient wieder Nahrung zu sich nehmen. Allerdings sollte die Nahrung in den ersten Wochen nach der OP weich sein, wie z. B. pürierte und weiche Nahrung, Smoothies, damit der Kiefer nicht zu sehr belastet wird.
Das Ausheilen des operierten Kieferknochens kann sich bis zu 6 Monate hinziehen.
Nach der Operation sind keine Narben sichtbar, da der Chirurg ausschließlich im Mund operiert hat.
Wenn die Kiefernkochen gut verheilt sind, können nach 6-12 Monaten in einer zweiten OP unter Vollnarkose meist komplikationslos die Osteosyntheseplatten und die Schrauben entfernt werden. Während dieses zweiten Eingriffs kann eine Kinnkorrektur nachgeholt werden.
Danach folgt im dritten Schritt die kieferorthopädische Feineinstellung der Verzahnung („Okklusion“) mit der festen Spange (Multiband-Apparatur). Stimmt die Okklusion, kann die Multiband-Apparatur entfernt werden und es folgt die Retentionsphase.
Die Retentionsphase folgt auf die aktive Behandlung und dient der Stabilisierung der Zahnstellung. Während der Nacht werden Retentionsspangen oder Retentionsschienen getragen, außerdem kann ein fixierter Haltedraht („Retainer“) an der Hinterseite der Zähne befestigt werden.
Es kann erforderlich sein, den chirurgischen Eingriff vor Beginn der kieferorthopädischen Behandlung durchzuführen.
Das kann der Fall sein, wenn der Oberkiefer noch vor der Ausformung der Zahnbögen mit der festen Spange verbreitertwerden muss, wie es bei einem skelettalen Kreuzbiss erforderlich ist. In diesem Fall wird eine Gaumennahterweiterungs-Apparatur (GNE) eingesetzt und der Oberkiefer wird chirurgisch unterstützt transversal verbreitert („SARPE“) noch bevor die feste Spange eingesetzt wird. Dies ist deshalb erforderlich, weil die Naht in der Oberkiefermitte ca. ab dem 18. Lebensjahr verknöchert ist und eine Verbreiterung mit einer GNE ohne chirurgische Unterstützung nicht möglich ist.
In manchen Fällen ist später, nach der kieferorthopädischen Ausformung der Zahnbögen, zusätzlich eine Operation des Unterkiefers erforderlich.
Aber auch der Unterkiefer („Mandibula“) kann chirurgisch mit einem sogenannten „Distraktor“ erweitert werden, wenn er zu schmal ist, bevor mit der kieferorthopädischen Behandlung und Ausformung der Zahnbögen begonnen wird.
Auch eine funktionstherapeutische Vorbehandlung kann erforderlich sein, wenn Kiefergelenksbeschwerden (CMD) oder Nacken-, Schulter-, Rückenschmerzen vorhanden sind.
Mithilfe einer Schienentherapie soll ein funktionelles Gleichgewicht der Kiefer hergestellt werden.
Die aktive Behandlungsdauer variiert von Fall zu Fall. Insgesamt muss man von einer aktiven Behandlungsdauer mit der festen Spange von 1,5-2 Jahren ausgehen.
Die Retentionsgeräte für die Nacht sollten ca. 1 Jahr getragen werden. Sie werden weiterhin regelmäßig von uns kontrolliert. Der evtl. eingesetzte Lingualretainer sollte möglichst über viele Jahre belassen und ggf. ausgetauscht werden.
Nach der Dysgnathie-Operation ist das Gesicht geschwollen und die Knochen müssen zusammenwachsen. In dieser Zeit sind physiotherapeutische Behandlungen sinnvoll, um den Heilungsprozess durch Lymphdrainage-Behandlungen zu beschleunigen.
Die Kosten dieser kombinierten kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Therapien von Erwachsenen werden nach Genehmigung durch einen Gutachter von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen. Bei Privatversicherten ist die Kostenübernahme tarifabhängig.
Reinigung der Zähne und der festsitzenden Multiband-Apparatur |
Prothetische Versorgungen erst nach der Dysgnathie-Behandlung |